Paralympisch leben

2014 schrieb Markus Rehm Geschichte. Nun blickt der Weitspringer zurück.

2014 schrieb Markus Rehm Geschichte. Nun blickt der Weitspringer zurück.
10. Dezember 2014

Ein Jahr wie im Flug // Deutscher Meister mit Prothese: 2014 schrieb Markus Rehm Geschichte. Hier blickt der Weitspringer zurück auf Titel und Enttäuschungen

18. Januar: Nordrhein-Meisterschaften

Ich habe mich an diesem Tag sehr gut gefühlt und auf einen schönen Wettkampf gefreut. Und auf gute Konkurrenz. Ich bin schließlich erstmals gegen nichtbehinderte Leichtathleten angetreten. Dann bin ich 7,61 Meter gesprungen und habe gewonnen - damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Danach ging es los: Ich bin in der Nacht nach dem Wettkampf erst aus der Wertung rausgeflogen, dann wieder reingenommen worden. Das war schon ein kleiner Vorgeschmack auf das, was alles noch kommen sollte. Darauf, dass es 2014 spannend werden könnte.

4. Februar: Westdeutsche Meisterschaft

Bei der Westdeutschen Meisterschaft war es noch nicht so aufregend, das kam alles erst später. Ich habe mit 7,54 Meter auch diesen Titel gewonnen. Ende Februar bin ich in Dubai dann 7,65 Meter gesprungen - damit hatte ich die Norm für die deutsche Meisterschaft im Sommer erfüllt. Dabei war mir in der ganzen Saison noch kein einziger optimaler Sprung gelungen. Mal hatte ich übertreten, mal beim Absprung Weite verschenkt. Meiner Trainerin und mir war aber klar: Eigentlich habe ich es drauf. Es könnte in jedem Wettkampf passieren, dass ich die acht Meter knacke.

26. Juli: Deutsche Meisterschaft in Ulm

Mein Highlight des Jahres - ganz klar. Ich wusste genau, dass es nicht jedem gefällt, dass ich in Ulm starte. Das wurde mir auch klar gezeigt, einige Athleten haben sich über mich beschwert, es gab einen Protestbrief. Ich habe mich geärgert, dass viele Leute erst kurz vor dem Wettkampf auf mich zugekommen sind - dabei war monatelang Zeit gewesen, um Probleme auszuräumen. Ich hätte gerne ein offenes Gespräch geführt, wir hätten uns zusammensetzen und Bedenken ausräumen können. Ich habe immer versucht, transparent und kompromissbereit zu bleiben. Es ging mir ja nicht darum, irgendjemandem etwas wegzunehmen. Oder dass jemand meinetwegen aus der Sportförderung rausfällt. Aber zu diesem Zeitpunkt war mein Start schon kein sportliches Thema mehr, sondern ein politisches. Vor dem Wettkampf haben einige Konkurrenten gar nicht erst versteckt, dass es ihnen nicht gefällt, dass ich neben ihnen sitze.

Nach meinem vierten Versuch in Ulm wusste ich sofort: Das war ein guter Sprung. Ich habe dann auf die Weite gewartet, auf der Anzeigetafel leuchteten 8,24 Meter auf. Mein erster Gedanke war: Wahnsinn! Und der zweite: Alles klar, jetzt geht die Post ab. Ich habe die Reaktionen der Trainer auf der Tribüne gesehen, einige haben sich weggedreht, sich aufgeregt, ein paar Gesichter waren schon sehr stark gerötet. Es war ein unglaublicher Wettkampf, Christian Reif ist sechs Mal mehr als acht Meter gesprungen, konnte mich aber nicht mehr überholen. Da war mir endgültig klar, dass einiges auf mich zukommen würde. Ich war Deutscher Meister und hatte die Norm für die EM der Nichtbehinderten in Zürich erfüllt. Am selben Abend war ich noch im ZDF-Sportstudio, mein Handy hat ununterbrochen geklingelt und vibriert, tagelang. Mit so viel Aufmerksamkeit hätte ich nie gerechnet. Da habe ich erst realisiert, welche Tragweite mein Fall hat.

30. Juli: Nichtnominierung für die EM

Am Morgen hat mir Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands, mitgeteilt, dass der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) mich nicht für die Europameisterschaft nominieren wird. Das war schon eine Enttäuschung. Mir war aber auch klar, dass es für den DLV eine schwierige Entscheidung werden würde. Der Verband entschied, ein Sprung mit meiner Prothese sei nicht mit einem Sprung mit zwei gesunden Beinen vergleichbar. Ich hatte aber von Anfang an gesagt, dass ich gegen eine Nicht-Nominierung nicht klagen würde. Abseits der Anfeindungen sind viele Athleten nämlich auch sehr korrekt und freundschaftlich mit mir umgegangen, denen gegenüber wollte ich fair bleiben. Ich will ja keinen Keil zwischen den olympischen und den paralympischen Sport treiben - ganz im Gegenteil. Ich möchte, dass wir uns näherkommen. Ich hatte allerdings schon sehr auf die Nominierung gehofft, nicht nur aus sportlichen Gründen. Wäre ich zur EM gefahren, hätte man die Diskussion auf eine höhere Ebene gebracht. Dann hätte es eine internationale Entscheidung geben müssen, man hätte mehr Leute mit im Boot gehabt, vielleicht auch mehr Kompetenz. Ich bin aber nicht in ein tiefes Loch gefallen, ich war darauf vorbereitet, nicht nominiert zu werden. Ich war schon immer optimistisch, aber auch realistisch.

17. August: EM-Finale in Zürich

Ich musste die EM also aus der Ferne verfolgen. Zum Start der Weitsprung-Konkurrenz saß ich im Auto, ein Freund hatte einen Livestream laufen und hat mir erzählt, was passiert. Ich war aber rechtzeitig zu Hause, um den Rest des Wettkampfs im Fernsehen anzuschauen. Wenn man keine persönliche Verbindung dazu hat und sich eine EM auf der Couch anguckt, ist das toll. So aber habe ich mich schon gefragt: Wie wäre es, wenn ich jetzt am Start wäre?

23. August: Paralympische EM in Swansea

Ganz ehrlich: Es war schwierig, mich für die EM zu motivieren. Ich musste zuvor jeden Tag über die EM-Nominierung und so weiter sprechen, mich immer wieder erklären. Das hat viel Kraft gekostet. Die Bedingungen in Swansea waren auch nicht einfach, es war sehr windig. Ich habe mit 7,63 Meter meinen EM-Titel verteidigt. Obwohl ich weit von meiner Bestleistung entfernt war und trotzdem einen großen Vorsprung von 1,41 Meter hatte, war es kein langweiliger Wettkampf für mich. Natürlich war mir schnell klar, dass mich mit der Weite kaum jemand schlagen kann, ich kenne ja die Weltrangliste und meine Konkurrenten. Ich bin aber stolz darauf, Teil der paralympischen Familie zu sein. Siege sind außerdem immer schön. Am Ende meiner Karriere kann ich hoffentlich auf viele Titel zurückblicken - und das als großen Gesamterfolg werten.

31. August: Istaf in Berlin

Das Istaf ist ein toller Wettkampf: großartige Athleten, internationales Feld, das volle Olympiastadion. Das sind große Anreize für mich, gute Leistungen zu bringen. Ich habe mich tierisch darüber gefreut, nach Berlin eingeladen zu werden. Ich bin gemeinsam mit den anderen Weitspringern gestartet, wurde aber getrennt gewertet: Das war eine gute Lösung. Ich denke, für die Inklusion war das Istaf ein großes, ein wichtiges Zeichen. Es war einfach ein schöner Wettkampf, der keine anderen Schlagzeilen gebraucht hat. Der keine Diskussionen nach sich gezogen hat, in entspannter Atmosphäre. Das ist doch das Ziel! Besonders gefreut hat mich, dass ich noch einmal gegen Christian Reif antreten konnte. Er ist mit dem ganzen Thema immer total ruhig und sachlich umgegangen. Christian und ich sind in diesem Jahr wirklich Freunde geworden. Es hat mir extrem viel gegeben, dass ich diese Wettkämpfe gegen ihn bestreiten durfte.

3. November: Meistertitel bleibt bestehen

Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass der DLV entschieden hat, dass ich meinen Meistertitel von Ulm behalten darf. Ich meine - Deutscher Meister? Na klar, das ist eine große Ehre, ein toller Erfolg. Der DLV hat im Zuge der Entscheidung ein neues Regelwerk für gemeinsame Starts und getrennte Wertungen von behinderten und nichtbehinderten bekannt gegeben. Da sehe ich noch viel Bedarf nachzuarbeiten, ich finde es noch nicht eindeutig genug. Laut Regel sind alle Hilfsmittel verboten, die einen Vorteil verschaffen könnten. Aber schon eine Brille ist ein Hilfsmittel - was ist damit? Es wurde versucht, eine schnelle Lösung zu finden, aber so einfach ist das nicht. Das Regelwerk muss noch detaillierter ausgearbeitet und kritisch hinterfragt werden. Bei dieser Diskussion geht es schließlich nicht um mich, sondern um den gesamten Sport.

2014 war ein erfolgreiches, aufregendes, schönes Jahr - aber auch sehr anstrengend und manchmal absolut frustrierend. Viele Leute wollten mich nicht verstehen und mir nicht zuhören. Die haben mich immer als Gegner gesehen, als Bösen. Dabei kannten die mich gar nicht, viele Urteile wurden zudem ohne belastbare Daten oder mit unvollständigen Daten gefällt. Das Jahr hat mir aber auch sehr viel Energie gegeben, ich habe viel positives Feedback bekommen. Ich glaube, dass wir 2014 etwas für den Sport erreichen konnten. Das motiviert mich weiterzumachen.

Quelle: Tagesspiegel / aufgezeichnet von Lars Spannagel.