Paralympisch leben

Vom Handbiker zum Rollstuhlfahrer

Vom Handbiker zum Rollstuhlfahrer
05. Oktober 2015

Eine Panne bremst Alessandro Zanardi.  Das Ziel erreicht der Italiener trotzdem - Sieger Vico Merklein stellt einen Streckenrekord auf

Berlin - 8,5 Kilometer hatte Alessandro Zanardi noch vor sich. Es war ein besonderes Rennen für ihn, hier in Berlin, in der Stadt, in der er zum zweiten Mal geboren wurde, wie er noch kurz vor dem Start gesagt hatte. Plötzlich aber ging in seiner zweiten Geburtsstadt nichts mehr. Die Kette seines Handbikes, mit dem er mit bis zu 45 Stundenkilometern unterwegs gewesen war, riss. Das Rennen war vorbei - beziehungsweise: hätte vorbei sein müssen. Wenn der Mann im Gefährt nicht der Italiener Alessandro Zanardi gewesen wäre.

Vor 14 Jahren wurden dem ehemaligen Formel-1-Rennfahrer nach einem grauenvollen Unfall auf dem Lausitzring im Unfallkrankenhaus Berlins beide Beine oberhalb der Knie amputiert. Der 48-Jährige, das verdeutlichte er jüngst auch in einem Interview mit dem Tagesspiegel, macht immer weiter im Leben, im Rennen.  Auch ohne Beine, ohne Kette. "Das Glas ist für mich immer halb voll, nie halb leer", so weit die Floskel. Zanardi aber ergänzt: "Aber während ich trinke, versuche ich immer, noch etwas in mein Glas nachzufüllen. Ich versuche immer weiterzukommen."

Am Sonntag, als das Rennen für ihn hätte vorbei sein müssen, füllte er nach und kam weiter. Sein Handbike funktionierte der Italiener kurzerhand in einen traditionellen Rollstuhl um. Keine Kurbel half ihm mehr beim Antrieb seines Handbikes. Doch wer seine Beine verloren hat und trotzdem so fest im Leben steht wie Zanardi, der meistert auch eine gerissene Kette, der kann improvisieren. Zanardi jedenfalls ergriff mit seinen beiden Händen die Räder und schaffte es noch nach 1:50:32 als 72. ins Ziel. "Ich bin als Handbiker gestartet und als Rollstuhlfahrer ins Ziel gekommen", sagte er anschließend.

Zufrieden wird er dennoch nicht gewesen sein. Alessandro Zanardi war Leistungssportler als Rennfahrer und ist es geblieben als Ausdauersportler. Er war acht Mal Weltmeister im Handbike, bei den Paralympics 2012 in London gewann er im Einzelzeitfahren und Straßenrennen jeweils die Goldmedaille. Am Sonntag allerdings war er nicht als Favorit ins Rennen gegangen.

Alessandro Zanardi gewann alle seine Titel im Handbike in knieender Position.  Beim Berlin-Marathon aber sind nur die Handbikes mit liegender Position zugelassen. Er lieh sich ein Handbike dafür von einem Kumpel, drei Wochen trainierte er darin für den Marathon. Das ist viel zu kurz; die Umstellung ist immens, komplett andere Kräfte wirken in diesen unterschiedlichen Gefährten auf den Körper.

Alessandro Zanardi machte dennoch ein gutes Rennen. Nach der Hälfte der Distanz war er bei den ersten 20 Fahrern mit dabei. Der spätere Sieger Vico Merk lein, der in 1:02:32 einen Streckenrekord aufstellte, hatte Zanardi vor dem Rennen zu einem der Favoriten erklärt. Schließlich könne Zanardi enorm beißen.  Vielleicht wird Zanardi das künftig häufiger in der liegenden Version des Handbikes tun.

Vico Merklein berichtete auch von einer Unterhaltung mit dem ehemaligen Formel-1-Fahrer unmittelbar nach dem Rennen. Alessandro Zanardi habe ihm erzählt, dass er das Liegebike interessanter finde als das Kniebike. Es werde weniger taktiert, mehr auf Geschwindigkeit gefahren. Und Geschwindigkeit liegt Alessandro Zanardi auch 14 Jahre nach seinem schrecklichen Unfall immer noch im Blut. Martin Einsiedler
Noch ist alles in Ordnung im Ketten-Bike. Am Start konnte Alessandro
Zanardi nicht ahnen, was für ein Abenteuer noch vor ihm lag.


Quelle: Tagesspiegel