Paralympisch leben

So stehen die Paralympics-Chancen für die deutschen Sportler

So stehen die Paralympics-Chancen für die deutschen Sportler
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19. Februar 2016

In welchen Sportarten sind bei den Paralympics deutsche Athleten dabei? Wer hat sich schon qualifiziert? Hier sind die Antworten.

Noch knapp sieben Monate sind es bis zu den Paralympics in Rio de Janeiro. Die Sportlerinnen und Sportler kämpfen um ihre Tickets, denn bislang ist kaum einer im deutschen Team sicher dabei. 151 Sportler durften Deutschland 2012 in London vertreten – noch ist unklar, wie groß die Mannschaft des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) in diesem Jahr sein wird. Für die Spiele in Rio vom 7. bis zum 18. September rechnet DBS-Sportdirektor Frank-Thomas Hartleb mit einer etwas größeren Zahl: „Das hängt auch davon ab, welche Teams sich noch qualifizieren, aber wir erwarten bis zu 160 Athleten.“

Am 1. August wird der DBS dann die nominierten Paralympics-Teilnehmer bekanntgegeben. Ausschlaggebend für eine Nominierung sind die Medaillenchancen – und falls der DBS noch über weitere Startplätze verfügt, sollen auch Nachwuchsathleten mit Perspektive nominiert werden, um Wettkampferfahrung zu sammeln. „Und dann wollen wir uns dort natürlich auch gut präsentieren", sagt Hartleb, "die Paralympics sind das große Highlight, das höchste Gut im Behindertensport.“ Über die Chancen in den Teamsportarten hatten wir bereits berichtet. Doch wie sieht es in den einzelnen Sportarten aus? Sportdirektor Hartleb gibt einen exklusiven Überblick:

 Boccia: Christian Voit als bester Deutscher der Klasse BC2 ist aktuell auf Rang 89 der Weltrangliste, Thomas Knoth in der BC3 46., Boris Nicolai in der BC4 58. Die BC3- und BC4-Paare schaffen es ebenso nicht unter die ersten acht Nationen wie das Team, das auf Platz 33. liegt. Hartleb sagt: „Hier werden wir mit Sicherheit keinen Sportler dabei haben. Das ist eine junge Sportart bei uns, die sich langsam entwickelt. Für Rio können die Athleten nicht mehr genügend Punkte sammeln. Aber vielleicht reicht es ja für Tokio 2020.“

 Bogenschießen:
Jennifer Heß und Uwe Herter holten in den Klassen Recurve Open und Compound Recurve W1 bei der Heim-WM in Donaueschingen je einen Platz für Deutschland. Hartleb sagt: „Der gilt für die Startklasse. Wer die dann besetzt, wird erst bei der Nominierung bekanntgegeben. Insgesamt rechnen wir mit bis zu fünf Startplätzen im Bogensport.“ Weitere Qualifikationsmöglichkeiten sind die Europameisterschaften vom 4. bis zum 10. April im französischen Saint Jean de Monts-Challans und das Ranglistenturnier im tschechischen Nove Mesto vom 15. bis 20. Juni.

 Fechten: Deutschlands beste Fechterin, Simone Briese-Baetke, die in London Silber gewann und lange Zeit auf Rang eins der Weltrangliste war, ist aufgrund einer langen Krankheit aus den Qualifikationsrängen herausgefallen. Hartleb sagt: „Hier gibt es ein großes Fragezeichen. Wenn sie es nicht schafft, durch die Weltcups rechtzeitig wieder unter den ersten zwölf der Weltrangliste zu sein, werden wir eine Wildcard beantragen. Wir hoffen, dass sie in Rio fit ist und wieder um Medaillen kämpfen kann.“

 Gewichtheben: 2012 war nur Mario Hochberg dabei, dieses Mal sieht es so aus, als würde das Gewichtheben ohne deutsche Beteiligung stattfinden. „Bei der Europameisterschaft Ende letzten Jahres in Ungarn konnten weder Hochberg noch Karina Müller-Freye überzeugen. Theoretisch können sich beide noch qualifizieren, aber es wäre doch eine sehr große Überraschung“, sagt Hartleb. Bis zum 29. Februar bleibt noch Zeit, das vorgegebene Qualifikationsgewicht zu stemmen.

 Judo: Die Brussig-Zwillinge Carmen und Ramona, die in London beide Gold gewannen, haben aufgrund der Weltrangliste ebenso einen Startplatz sicher wie Sebastian Junk und Newcomer Nikolai Kornhaß, der bei der EM in Lissabon Ende letzten Jahres Bronze holte. Der DBS-Sportdirektor sagt: „Und dann gibt es noch Oliver Upmann, der in seiner Gewichtsklasse erster Nachrücker ist. Das heißt, wenn einer der vor Upmann platzierten Athleten zurückgezogen wird, ist er dabei. Also: Vier sind sicher qualifiziert, ein fünfter ist möglich.“

 Leichtathletik: Acht Mal Gold, sieben Mal Silber, neun Mal Bronze: Das Abschneiden der deutschen Leichtathletik-Mannschaft bei der Weltmeisterschaft in Doha war erfolgreich. Darauf gründen auch die Hoffnungen des DBS: „Aktuell kommen wir durch die WM auf zwölf Slots, also zwölf Nationenstartplätze. Durch ein komplexes Rechensystem werden das aber noch mehr werden, wir gehen von 20 bis 25 Athleten aus. Wobei es bei 20 schon eng wird, weil wir so viele tolle Leichtathleten haben, vor allem auch im Nachwuchsbereich. Deshalb wäre ich froh, wenn es 25 wären. Der Nominierungsvorschlag erfolgt dann durch den Bundestrainer. De facto müssen sich alle deutschen Athleten noch qualifizieren.“ Bei der Europameisterschaft vom 10. bis 16. Juni in Grosetto/Italien können die Normen für die Paralympics weiter erreicht werden – Deadline ist am 20. Juni.

 Para-Kanu: In der neuen Sportart hat Deutschland gleich zwei Medaillenkandidaten. Hartleb sagt: "Edina Müller und Tom Kierey sind sicherlich die hochkarätigsten Kanuten, die Deutschland aktuell hat. Beide haben durch ihre Erfolge bei der letztjährigen Weltmeisterschaft einen Startplatz für Deutschland geholt.“ Die Weltmeisterschaft vom 17. bis 19. Mai in Duisburg, die parallel zu der WM der Nichtbehinderten ausgetragen wird, bietet eine Möglichkeit, noch weitere Startplätze für Deutschland zu erringen.

 Radsport: Sechs Gold-, neun Silber- und sechs Bronzemedaillen gab es bei der Weltmeisterschaft in Nottwil. Andrea Eskau, Christiane Reppe, Michael Teuber und Pierre Senska dürfen sich Weltmeister, Hans-Peter Durst sogar Doppel-Weltmeister nennen. „Im Radsport läuft das so: Bei den internationalen Rennen kann man als Nation Punkte sammeln. Diese Punktzahl ist dann mit einer Anzahl von Startplätzen verbunden. Für uns sieht es sehr gut aus. Für Bahn- und Straßenrennen kommen wir bei den Damen aktuell auf sechs Startplätze, bei den Herren auf sieben“, sagt Hartleb. Weitere Punkte und Startplätze können bei der Bahn-Weltmeisterschaft vom 17. bis 20. März im italienischen Montichiari oder den verbleibenden Weltcups erkämpft werden.

Reiten:
Hannelore Brenner, Angelika Trabert, Britta Näpel oder Steffen Zeibig sind favorisiert, was die Platzvergabe betrifft. Andere werden bei den ausstehenden Turnieren ihre Chance bekommen. Hartleb sagt: „Im Reiten  erwarten wir bis zu fünf Startplätze für Rio. Dabei kommt es  immer auch auf das Pferd an. Wenn das krank oder verletzt ist, kann auch der Reiter nicht nominiert werden.“

 Rudern: Der neu formierte Mixed-Vierer mit Juliane Bläß, Tino Kolitscher, Valentin Luz, Susanne Lackner und Steuerfrau Inga Thöne hat sich bei der WM im französischen Aiguebelette vorzeitig qualifiziert. DBS-Sportdirektor Hartleb erklärt: „Da entscheidet dann der Cheftrainer, wer letzten Endes zur Nominierung vorgeschlagen wird. Er muss auf vieles achten: Haben sich die Athletinnen und Athleten mit ihren Ergometer-Werten qualifiziert? Stimmt das Verhältnis von Männern zu Frauen? Von seh- zu körperbehindert? Von Links- und Rechtsauslegern?“ Johannes Schmidt und Sylvia Pille-Steppat belegten in Frankreich jeweils im Ruder-Einer den vierten Platz im B-Finale – Rang zwei hätte für eine Quali gereicht. Beide müssen nun auf die Qualifikations-Regatta vom 22. bis 25. April im italienischen Gavirate hoffen.

 Schwimmen:
Es gibt die internationale Norm vom Schwimmverband und die DBS-Norm, die höher liegt. Die müssen alle erfüllen, um nominiert werden zu können. Hartleb sagt: „Aktuell haben wir nach der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr nur drei Slots, wobei die Prognose in Richtung zwölf geht. Im Schwimmen waren wir zuletzt nicht ganz so erfolgreich. Im Gegensatz zu den paralympischen Kernsportarten Leichtathletik und Radsport ist die Weltspitze uns hier doch ein Stück voraus. Das liegt auch daran, dass wir nicht wie die besten Nationen einen Starschwimmer haben, der in seiner Klasse dominiert und alleine dort mehrere Medaillen gewinnt. Zudem hatten unsere Athleten zuletzt leider auch immer wieder Verletzungssorgen. So müssen wir eben für die Startplätze kämpfen.“ Bis zum 12. Juni können die Normen im Schwimmen noch erreicht werden, unter anderem bei der Europameisterschaft vom 1. bis 7. Mai im portugiesischen Funchal.

 Segeln:
Zwei Boote sind bis jetzt qualifiziert: Das kleinere Ein-Mann-Kielboot 2.4mR und das größere Drei-Mann-Kielboot Sonar. „Im kleineren Boot dürfte aktuell Heiko Kröger, der Paralympics-Zweite von 2012, favorisiert sein, aber auch Lasse Klötzing hat gute Ergebnisse. Im größeren Boot dürften die erfahreneren Segler die größten Chancen haben. Mit Skipper Jens Kroker, Siegmund Mainka und Robert Prem holte das Berliner Boot 2008 Gold und 2012 Silber. Es gibt aber auch noch das Boot aus Bremen“, sagt Hartleb. Bei Punktgleichheit zwischen Kröger und Klötzing entscheidet das bessere Ergebnis beim Weltcup vom 21. bis 26. April im französischen Hyères, die Sonar-Besatzung benennt der Cheftrainer. Die Weltmeisterschaft in den Niederlanden vom 24. bis 29. Mai hat keinen Einfluss auf die Rio-Teilnahme.

 Sportschießen:
Bernhard Fendt, Norbert Gau, Natascha Hiltrop, Josef Neumaier und Elke Seeliger haben einen Startplatz für den DBS errungen. Hartleb sagt: „Fünf Startplätze haben wir schon, zwei von der Weltmeisterschaft 2014 in Suhl, drei weitere wurden bei den Weltcups in Osijek, Fort Benning und Sydney geholt. Wer in Rio an den Start gehen wird, entscheidet sich bei drei Qualifikationswettkämpfen in Deutschland.“

 Tennis: Sabine Ellerbrock ist Vierte in der Weltrangliste, Katharina Krüger Elfte. Eine Platzierung unter den ersten 15 ist für den DBS notwendig. Beide sind also mit großer Wahrscheinlichkeit dabei. Und Hartleb sagt: „Die beiden werden im Falle ihrer Nominierung auch im Doppel antreten und haben gute Medaillenchancen. Bei den Männern wird wohl niemand teilnehmen.“ Steffen Sommerfeldt ist als bester Deutscher auf Rang 32, aber nur die ersten 20 qualifizieren sich nach den DBS-Vorgaben.

 Tischtennis: Nachdem Thomas Brüchle im Finale der Europameisterschaft seinen Teamkollegen Thomas Schmidberger sensationell besiegt hat, ist der Europameister als einziger deutscher Tischtennisspieler sicher qualifiziert. Hartleb sagt: „Außerdem hat uns der internationale Verband ITTF eine Liste mit zehn Athleten geschickt, die die Vorgaben bereits erfüllt haben. Diese werden wir akzeptieren. Es ist möglich, dass wir auch noch weitere Wildcards beantragen.“

 Triathlon: Erstmals ist diese Disziplin paralympisch. Im aktuellen Qualifikationsranking liegt Martin Schulz auf Platz zwei. „Rein rechnerisch ist es nicht mehr möglich, mich von den vorderen Plätzen zu verdrängen. Meine ganze Vorbereitung ist auf September ausgerichtet“, sagt der 25-Jährige. Und Hartleb fügt hinzu: „Martin Schulz ist natürlich das Gesicht des Para-Triathlons in Deutschland. Neben ihm rechnen wir auch mit Stefan Lösler.“ Lösler, der in Sotschi noch auf dem Snowboard bei den Paralympics dabei war, ist in der Weltrangliste in seiner Klasse Zehnter und hat noch alle Möglichkeiten, bei den Weltcups oder der Europameisterschaft in Lissabon vom 26. bis 29. Mai Punkte zu sammeln, um in den Top10 zu bleiben. Eine Frau wird nicht antreten, da Nora Hansels Startklasse nicht paralympisch ist. Die Weltmeisterschaft am 23. und 24. Juli in Rotterdam dient als letzter Formcheck, hat aber keine Auswirkung mehr auf eine Rio-Teilnahme, da der Qualifizierungszeitraum am 31. Juni bereits endet.

(Quelle: Der Tagesspiegel)