Paralympisch leben

Ihr Rollstuhl ist ‚nur’ ein Sportgerät

Ihr Rollstuhl ist ‚nur’ ein Sportgerät
Foto: Bild: picture alliance
11. Juli 2016

Nach dem Spiel, wenn Gesche Schünemann aus ihrem Rollstuhl aufsteht, staunen viele Zuschauer. Die Hamburgerin ist eine der weltbesten Rollstuhlbasketballerinnen und möchte bei den Paralympics in Rio mit dem deutschen Team die Goldmedaille von 2012 verteidigen. Sie lebt sportliche Inklusion: Ihr Handicap ist vergleichsweise gering – der Rollstuhl  für die Fußgängerin ‚nur’ ein Sportgerät.

Hamburg – Gesche Schünemann kennt diese erstaunten Blicke, wenn sie nach einem Spiel aus ihrem Rollstuhl steigt. Ja, sie läuft. Auf den eigenen zwei Beinen. Nein, sie ist nicht gehbehindert, wie man zunächst annehmen müsste. „Viele Zuschauer wundern sich, sie glauben, man müsste ein Handicap haben, um Rollstuhlbasketball zu betreiben“, sagt die 33-Jährige. Aber ganz so ist es nicht. In der Rollstuhlbasketball-Bundesliga muss man zwar keine Behinderung haben, um mitspielen zu dürfen. An den Paralympics teilnehmen darf indes nur, wer tatsächlich ein Handicap hat – und sei es nur ein ‚Minimal Handicap’ wie im Rollstuhlbasketball. Es ist eine Besonderheit unter den paralympischen Sportarten. So beispielsweise im Falle Schünemanns, die eine Gonarthrose hat, und damit einen vorzeitigen Verschleiß knorpeli¬ger Gelenkflächen des Kniegelenks. Aber: Sie ist im Alltag nicht auf eine Fortbewegungshilfe angewiesen. „Der Rollstuhl ist mein Sportgerät“, sagt sie, „das ist alles“.

Ende Juni wurde sie von Cheftrainer Holger Glinicki zur Nominierung für ihre dritten Paralympischen Spiele vorgeschlagen. Auf nach Rio. Im Idealfall die Goldmedaille von den Spielen 2012 in London verteidigen. Der World Super Cup in Frankfurt/Main vom 15. bis 17. Juli ist dabei eine weitere, wichtige Standortbestimmung für das Team. „Mit den USA und den Niederlanden warten zwei unserer härtesten Konkurrenten auf uns“, sagt Glinicki, „das wird ein echter Härtetest“.

„Forward“ Schünemann spielt in den Planungen des Cheftrainers eine ganz besondere Rolle. Sie ist stark im Block, dem Rebound und aus der Distanz. „Sie ist auf ihrer Position eine der besten Spielerinnen der Welt.“

Aber warum setzt sie sich für ihren Sport in einen Rollstuhl? „Weil ich gerne Basketball spiele“, sagt sie. Das hat sie nämlich schon immer gemacht. Bis hoch in die Zweite Liga. Und dann kam es zu diesem schlimmen Sportunfall: Kreuzbandriss links. Meniskus, Knorpel. Alles kaputt. Operationen folgten, aber ohne den gewünschten Erfolg. Die Gonarthrose... In der Konsequenz hieß das: Gehen ja, zum Glück ein normales Leben führen können. Aber eben keinen Leistungsbasketball mehr spielen. Drehungen, Springen, schnelle Schritte – das geht nicht.

Gesche Schünemann stammt aus Gießen. Und im benachbarten Wetzlar ist der RSV Lahn-Dill - seit Jahren national und international eines der besten Teams – beheimatet. „Ich hatte da immer mal zugeschaut. Die Idee, es mal im Rollstuhl auszuprobieren, war deshalb naheliegend“, erzählt sie.

Danach wuchs ihr Respekt vor den Leistungen der motorisch eingeschränkten Mitspielerinnen noch weiter. „Ich bin am Anfang überhaupt nicht klargekommen“, erinnert sich Gesche Schünemann an ihre ersten Versuche im neuen Sportgerät: „Man braucht eine ganz andere Körperbeherrschung, eine andere Koordination. Und man braucht die Hände eben nicht nur, um den Ball zu beherrschen, sondern auch um den Rollstuhl zu bewegen.“

Über ein Jahr hat es gedauert, bis sie sich einigermaßen gekonnt auf den Rollen über das Spielfeld bewegen konnte. „Ich war eine total lahme Ente, unbeweglich, kam nicht schnell in die andere Spielfeldhälfte, konnte leicht geblockt und aus dem Spiel genommen werden.“ Aber Aufgeben war keine Option, der Ehrgeiz war geweckt: „Ich wollte das unbedingt lernen.“ Das ist gelungen. Inzwischen spielt sie bei den BG Baskets Hamburg (HSV).

Es hat das Leben der studierten Sportmanagerin über den Sport hinaus bereichert. Mitspielerin Annika Zeyen, die ebenfalls wieder in den Rio-Kader des Cheftrainers berufen wurde, ist längst eine ihrer besten Freundinnen. „Für mich ist der Umgang mit Menschen mit Behinderung Alltag geworden“, sagt Gesche Schünemann, „ich bin sehr froh über diese Erfahrung“. 

Hamburg ist nach ihrem Umzug inzwischen zu ihrer zweiten Heimat geworden. Der HSV hat sich in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Rollstuhlsportverband und den BG Kliniken zu einem Schwerpunkt im Rollstuhlbasketball entwickelt. Schünemann hat einen Job in der Marketingabteilung des Vereins gefunden. Freistellungen für die vielen Lehrgänge und Länderspiele werden großzügig gewährt. Sie engagiert sich auch neben dem Sport in zahlreichen Kampagnen, um für den inklusiven Sport Werbung zu machen und Aufmerksamkeit zu schaffen. Wer könnte das besser als sie – die Fußgängerin im Rollstuhl.

Andreas Hardt (Medienmannschaft)