Die Saison im Para Radsport steht vor der Tür – und damit ein Jahr mit Weltcups, den deutschen Meisterschaften und schließlich den Weltmeisterschaften in Südafrika Ende August als Höhepunkt. Die deutschen Athletinnen und Athleten wollen an ihre tollen Erfolge von 2016 anknüpfen. Bei den Paralympics in Rio de Janeiro jubelte das deutsche Team über acht Goldmedaillen – eine davon holte Vico Merklein. Es war sein erstes Gold bei einem ganz großen Wettkampf. Nach zehn Jahren Leistungssport mit 200.000 Trainingskilometern. Ein Kampfschwein, einer, der sich quält, der für seinen Sport brennt – und nach seinem ersehnten Titel längst noch nicht satt ist.
Wenn Vico Merklein an den 15. September des vergangenen Jahres denkt, läuft es ihm noch immer eiskalt den Rücken hinunter. Ganz oben auf dem Treppchen war er schon häufig – allerdings noch nie bei Weltmeisterschaften oder den Paralympischen Spielen. Doch in Rio erfüllte sich der 39-jährige Handbiker aus dem hessischen Babenhausen seinen großen Traum. Auf der Strecke alles gegeben, den Sprint für sich entschieden, als Erster über die Ziellinie gefahren. Der Rest war pure Emotion. „Ich habe zehn Jahre dafür geackert, bin so oft auf die Nase gefallen, aber immer wieder aufgestanden und noch stärker zurückgekommen“, sagt Merklein. Der Moment in Rio: unbeschreiblich. „Mir ist so viel durch den Kopf gegangen. Ich habe an all die Menschen gedacht, die mich auf dem Weg großartig unterstützt haben, die Gespräche mit meiner Familie, auch an die Rückschläge, die unzähligen Trainingsstunden, die große Disziplin – ich habe diesem Ziel alles untergeordnet. Denn ich wollte mir selbst nicht im Ziel vorwerfen, dass ich nicht alles dafür getan und nicht alles aus mir herausgeholt habe“, erklärt er. Doch der Plan ging auf. Auf der Strecke in Rio konnte Vico Merklein seine Stärken ausspielen. „Der Kurs war wie für mich gemacht. Doch das Straßenrennen ist immer auch taktisch, man muss schlau fahren und kann nicht nur vorne die Wildsau rauslassen“, sagt der Mann mit den kräftigen Oberarmen. Schnörkellos. Geradeaus. So wie er über den Asphalt rast.
Sieben Monate fern von der Heimat: „Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht alles gibst!“
Das Rio-Gold war ein Produkt harter Arbeit. Allein im Jahr 2016 war der 39-Jährige sieben Monate fern von der hessischen Heimat. Teneriffa, Lanzarote, Mallorca, Kienbaum, Arizona – was nach tollen Urlaubszielen klingt, war für Merklein Quälerei. Um gerade in den Wintermonaten die Grundlagen zu legen, braucht er diese Trainingslager – und für die Psyche. „Natürlich trainiere ich auch zu Hause auf der Rolle. Aber wenn du das jeden Tag machst, brauchst du irgendwann eine Zwangsjacke. Ich habe mich schließlich nicht fürs Radfahren entschieden, um wie ein Hamster im Käfig zu ackern.“ Der Leistungssport ist längst nicht immer Vergnügen. „Doch es ist ja mein freier Wille. Mich zwingt niemand dazu. Wir sind halt schon ein bisschen bekloppt“, sagt Merklein. Immer getreu seinem Motto: „Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht alles gibst!“
Ein typischer Tag im Leben des querschnittsgelähmten Handbikers vom GC Nendorf sieht so aus: „Als erstes: Nahrungsaufnahme. Das ist tatsächlich kein Frühstück, erst recht kein Genuss. Ich muss eine Menge essen, um die Substanz zu erhalten.“ Es folgt die erste Einheit, dann ein Erholungsschlaf und schließlich die zweite Einheit. „Abends liegst du auf der Couch und schaust zum Fernseher, nimmst es aber gar nicht mehr wahr, weil du zu platt bist“, schildert Merklein, der dem Top Team des Deutschen Behindertensportverbandes angehört. So war es vor Rio. Tag für Tag. „Jede Einheit hat mich meinem Ziel nähergebracht, ich habe kein einziges Training ausgelassen und es nicht hinterfragt, was ich da überhaupt mache. Einfach rein ins Handbike und trainieren.“ Kilometer für Kilometer, immer wieder. „Klar, man entbehrt viel“, sagt Vico Merklein, um direkt anzufügen: „Allerdings bekommt man so viel zurück. Ich kann mich daran total bereichern.“ So wie am 15. September 2016 in Rio de Janeiro.